Glosse

Aus dem Tagebuch eines Agenturchefs (10): Die Kündigung

28.05.2024 - Wir blättern im Tagebuch von Andreas Haupt, Gründer, CEO und Zulangeschon-Chef der Agentur HAUPTGEWINN, der nach eigenen Angaben coolsten Agentur südlich des Polarkreises, der auch mit schmerzlichen Verlusten umgehen muss.

von Christian Faltin


16. Mai
Ich bin in den letzten 15 Jahren von 52 Frauen verlassen worden. Mindestens. Und ich nehm das persönlich, auch wenn es "nur" beruflich war. Gut, es waren auch etwa 40 Männer dabei. Das macht es aber nicht besser.

In unserer gar nicht mehr so hippen Agenturbranche leben wir aktuell (solange die KI noch nicht flächendeckend eingeführt ist) in einer Arbeitnehmer-Gesellschaft, im Zeitalter der Agentur-NomadInnen. Heißt konkret: Deine MitarbeiterInnen sagen Dir, wo's langgeht. Auch beim Jobwechsel. Meine persönliche Quote bei HAUPTGEWINN für Kündigungen liegt bei 1:10. Auf eine selbst ausgesprochene Kündigung kommen 10, die Dir als Chef ausgesprochen werden. Das ist alles andere als schön. Und auch nicht gut fürs Chef-Ego. Von den 10 Kündigungen sind 5 richtig bitter (Kategorie: So jemand bekommen wir nie wieder), 2 bis 3 zu verschmerzen und bei zweien freu ich mich richtig (natürlich nur innerlich).

Heute morgen ist eine Mail von Janette aufgeploppt, der mit Abstand besten Junior Account Managerin bei HAUPTGEWINN. Ein Supertalent, das in zehn Jahren die Agentur weiterführen könnte. Sie ist seit einem Jahr und neun Monaten bei uns. Und sie möchte "mal kurz mit Maria und mir sprechen".

Mal kurz sprechen. Ich krieg jetzt schon Bauchkrämpfe. Wie ich diese Termine hasse, weil ich genau weiß, was in 95 Prozent aller Fälle kommt: Die Kündigung.

Janette ist als Volo zu uns gekommen. Sie hat sehr schnell gelernt, sich super reingehängt und innerhalb eines Jahres das Level erreicht, welches sie eigentlich zu einer Account Managerin qualifiziert. Die Kunden lieben sie und zusätzlich ist sie eine absolute Team-Playerin. Der Traum jeder Agentur, deshalb haben wir ihr Volontariat nach einem Jahr verkürzt und sie als Junior übernommen. Und ihr noch eine kleine Extraprämie zum Jahresende draufgepackt. Eigentlich hätten wir sie gleich noch eine Stufe höher befördern müssen, weil sie so gut ist. Aber, was empfinden dann die anderen vier Juniors, die sie mal eben fix überholt hätte? Und was die Account Manager, die schon fünf bis sieben Jahre dabei sind?

OMG, was wird Janettes Team sagen und was die Kunden? Erst im letzten Meeting haben unsere zwei Großkunden betont, wie wichtig Ihnen die Kontinuität und Stabilität im Team ist. Auch wenn wir bei denen gerade schon den dritten Marketingverantwortlichen erleben. Und wie lange werden wir brauchen, bis wir Janette einigermaßen adäquat ersetzt haben?

Maria steht bei mir in der Bürotür: "Du hast die Mail gesehen, oder Andreas? Meinst Du, wie haben noch eine Chance bei Janette?" "Ich bin skeptisch, Maria. Aber mal positiv gedacht: Was können wir ihr bieten, um sie zu halten? Natürlich mehr Geld, den nächsten Karriereschritt und mehr Verantwortung. Aber dann müssen wir die Teams komplett neu zusammenpuzzeln, um die Statik in den Teams einigermaßen aufrecht zu erhalten. Das ist nicht gut für die Rendite. Können wir ihr nicht eine Workation in Südafrika im Winter anbieten? Ein Businessbike, eine Mitgliedschaft im Urban Sports Club? Oder zwei Wochen for free in deinem Chalet im Engadin, Maria? Lass uns mal alles sammeln, was wir zusammenkratzen können und was die BWA nicht völlig ruiniert."

Wir verabreden uns mit Janette für kommenden Mittwoch.


22. Mai
Der Konfi ist aufmunitioniert: Die gute Fritz-Rhabarberschorle, das Heilwasser aus der kleinen Brauerei im Spessart (die Story dazu müssen wir vertagen, ich bin gerade zu nervös) und natürlich Gummibärchen und Schokosnacks. An der Atmosphäre soll es nicht scheitern.

Janette kommt in den Konfi. Ohne Notebook, aber mit einem DIN Lang-Umschlag und den Blick eher talwärts gerichtet. Sch..., die Geschichte ist durch, bevor wir den ersten Satz gewechselt haben.

Und was soll ich sagen: Genau so kommt es. Janette hat ein "Super-Angebot". Nicht das Erste, wie sie betont. Sie wechselt in drei Monaten als Client Hapiness Managerin zu HOUSE OF GLORY, einer Agenturgruppe, die 20mal so groß ist wie wir. Natürlich versuchen wir sie umzustimmen. Bieten ihr das ganze Programm. Ohne Erfolg.

Ihre Antwort: "Das ehrt mich sehr, dass ihr euch so um mich bemüht. Und ich war echt sehr gerne bei Euch. Ich habe in den vergangenen fast zwei Jahren wahnsinnig viel gelernt. Die Kunden waren nicht immer einfach, aber unser Teamspirit war echt gut. Und die Projekte waren super vielfältig, genauso, wie ich mir den Einstieg in die Agenturbranche vorgestellt habe. Aber ich hoffe, ihr versteht, dass ich im neuen Job nochmal ganz andere Möglichkeiten bekomme als in einer mittelgroßen Agentur. Ich darf dort beispielsweise (bezahlt natürlich) auch meine ehrenamtliche Tätigkeit als Rettungssanitäterin abschließen. Ihr könnt euch aber total drauf verlassen, dass ich meine letzten Wochen bei HAUPTGEWINN genauso engagiert verbringe wie bisher."

Klar, verstehen wir. Hilft uns nur in keinster Weise irgendwie weiter. Nach 15 Minuten ist alles gesagt. Janette geht ab, wir bleiben sitzen. Ich frage Maria: "Hätten wir sie halten können? Haben wir einen Fehler gemacht?"

Maria ist genauso frustriert wie ich: "Wir haben alle drei Monate mit ihr gesprochen und ihr ihre Perspektive aufgezeigt. Wir haben ihr alles beigebracht, was sie im Job braucht. Wir haben sie ge- und befördert und von uns aus mehr Kohle gegeben. Was sollen wir denn noch machen? Ich fühle mich wie der Agentur-Sisyphos oder wie Bill Murray in ,Täglich grüßt das Murmeltier'. Du weißt genau, was kommt, aber es gelingt Dir nicht, den Lauf der Geschichte zu ändern. Und wenn Du noch nen Hunderter im Monat drauflegst, eine Mitgliedschaft im Wasauchimmer-Club, einen Dienstwagen oder ein Business Bike. Es kommt, wie es kommen muss. Die Besten gehen, die anderen bleiben. Meistens zumindest. Und wir fangen ab morgen wieder an, den Stein nach oben zu rollen."

"Immerhin", antworte ich, "war das genauso direkt und sympathisch wie Janette auch sonst war. Wir wissen doch beide, dass das auch ganz anders geht."

Denn es gibt mindestens drei Grundtypen von Abschiedsszenen im Konfi: die tränenreichen, die kühl distanzierten und die triumphalen. Bei den tränenreichen, haben sich die Mitarbeitenden wirklich wohl gefühlt und man merkt ihnen an, dass ihnen der Abschied emotional echt nahegeht. Bei den kühl distanzierten Gesprächen war von Anfang an wenig Leidenschaft für Job und Agentur im Spiel. Das Einzige, was da künftig fehlt, sind der/die ein oder andere Kollege bzw. Kollegin. Und dann gibt es noch die triumphalen Abschiede: Da überreicht der Mitarbeitende den Umschlag mit der Kündigung mit einem siegessicheren Lächeln im Gesicht. Und verbringt zwei Drittel des Abschlussgesprächs damit aufzuzählen, was ihm bzw. ihr alles nicht gepasst hat, wo man völlig falsch eingeschätzt wurde und wie sehr man sich darauf freut, im neuen Job all das zu machen, was einem hier nicht zugetraut wurde. Die Chefs wären übrigens auch ein weiterer Kündigungsgrund gewesen.
Der Tag ist für mich auf jeden Fall erst mal gelaufen.


23. Mai
Hilft ja nix. Lebbe geht weiter, auch ohne Janette. Muss ja. Für Camus war Sisyphos schließlich ein glücklicher Mann und HR in der Agenturbranche gleicht der Allegorie des Lebens: Finde deinen ganz persönlichen Sinn in der Endlosschleife des Recruitings. Den gestrigen Nachmittag haben wir mit Maria den Stein wieder die ersten Meter den Hügel hoch gerollt. Wir haben gebrainstormt, wie wir unsere Personalsuche modernisieren können und außerdem natürlich möglichst schnell Ersatz für Janette finden. Vielleicht schreib ich auf LinkedIn ja mal 10 Julias an, die Volontärin sind, ob sie sich einen Wechsel vorstellen können. In der Hoffnung auf ein Happy-End.

Und am Wochenende lese ich das Essay von Camus nochmal. Als Vorbereitung für den nächsten Murmeltiertag.

Wie die neue Recruiting-Strategie von Maria und Andreas aussieht, erfährt ihr in Folge 11 des "Tagebuchs eines Agenturchefs".


Zum Autor: Christian Faltin und Andreas Haupt kennen sich schon lange. Beide schreiben regelmäßig Tagebuch - schonungslos fiktiv, gnadenlos persönlich und nichts für schwache Nerven. Mit der Realität hat das natürlich gar nichts zu tun, deswegen ist auch keine künstliche Intelligenz im Spiel. Bis auf eine kleine Ausnahme. Mehr über den einen Autor unter Christianfaltin.de   . Er hat auch ein ganz tolles Linkedin-Profil.

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