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Automarkt 2002: Transparenz und harter Preiskampf

15.03.2001 - Die Gruppenfreistellungsverordnung der EU steht zur Diskussion

vh Wenn sich Anfang März die Automobilbranche beim Genfer Autosalon trifft, dürfte ein Thema die Szene beherrschen, das zwar aufs erste Hinhören trocken klingt, aber die traditionellen Strukturen des europäischen Autohandels nachhaltig verändern könnte - und damit auch den Vertrieb, das Marketing und das Kundenverhalten. Die Rede ist von der so genannten Gruppenfreistellungsverordnung, kurz GVO. Die geltende GVO nämlich soll bis zum Jahr 2002 modifiziert werden.

Der Slogan "Nichts ist unmöglich" könnte demnächst für die Automobilhersteller und -händler zur unbequemen Realität werden. Denn schon in einem Jahr könnten Sie Ihren nächsten Benz, BMW oder Renault in Italien, Österreich oder Frankreich beim ehemaligen Vertragshändler von Seat, Toyota oder Opel kaufen. Unrealistisch? Nein, höchstens übertrieben!
Doch zunächst zum Hintergrund: Generell verbietet die EU sämtliche wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen, die beispielsweise von Herstellern auf den Handel ausgeübt werden. Aber wo es eine Regel gibt, gibt es auch eine Ausnahme: eben die Gruppenfreistellungsverordnung. Die gewährt die Möglichkeit, eine ganze Gruppe - in diesem Fall Automobilhersteller und -vertrieb - von einer Regelung auszunehmen. Noch wird bei der EU geprüft, welche Auswirkungen der Wegfall beziehungsweise eine neue GVO für den Abbau der Wettbewerbsbarrieren hat.
Die Branche spekuliert über drei mögliche Szenarien: Szenario eins ist ein Verbot von vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen. In diesem Fall dürfte der Hersteller den Händlern keinerlei Vorschriften machen, was er verkauft, wo er verkauft und zu welchem Preis er verkauft. Dieses Szenario wird gemeinhin für unrealistisch gehalten, weil es andere Bereiche gibt, wie zum Beispiel den Vertrieb von Motorrädern, Computern oder medizinischen Geräten, in denen Regelungen gelten.
Szenario zwei ist, dass keine neue Regelung gefunden wird. Auch das ist nicht zu erwarten, denn dann greift in jedem europäischen Land nationales Recht mit den jeweiligen Preis- und Wettbewerbsgesetzen. Ein rechtliches Chaos wäre die Folge, die gewünschte Konformität des Marktes würde in weite Ferne rücken.
Die deutsche Automobilszene rechnet damit, dass sich Szenario Drei durchsetzt, und zwar die so genannte Schirm-GVO. Diese Regelung wird es den Herstellern zwar weiterhin erlauben, dem Handel Vorschriften zu machen, aber nicht so extrem wie bisher. Bislang dürfen die Hersteller dem Händler im Rahmen des selektiven Vertriebssystems vorschreiben, in welchem Verkaufsgebiet er verkaufen und wo er wie werben darf. Der Händler muss zudem die vom Hersteller vorgeschriebenen Qualitätsstandards erfüllen, die die Ausstattung des Verkaufsraums, das Corporate Design, den Service und das Marketing betreffen.
ONEtoONE hat sich mit Christian Müller, dem Deutschland-Chef der auf die Automotive-Branche spezialisierten Unternehmensberatung Urban Science, über die Auswirkungen der Schirm-GVO auf Markt und Marketing unterhalten:

ONEtoONE: Welche Konsequenzen hat die Etablierung der Schirm-GVO für den Automobilhandel?
Christian Müller: Die Vorgaben der Hersteller wie die Einschränkung des Verkaufsgebietes oder die rigiden Qualitätsstandards werden fallen. Der Händler wird seine Produkte künftig überall verkaufen dürfen. Das stärkt den Wettbewerb, wird aber auch einen verschärften Preiskampf zur Folge haben. Die neue GVO wird wie auch das Internet und die Euro-Einführung zu einer größeren Transparenz im Automobilmarkt führen. Um den Kostendruck abzufangen, werden die Hersteller die Händlerstandorte reduzieren. Laut Automotive News Europe schätzt VW-Vorstand Bernd Pit- schesrieder, dass in Europa von 60.000 Händlern höchstens 20.000 überleben werden.
OtO: Welche Folgen wird das für das Marketing haben?
Müller: Um die Markenexklusivität zu wahren, werden sich die Hersteller stärker auf das Brand Management konzentrieren. Teilfunktionen des Marketing, wie das Dialogmarketing, werden stärker in die Verantwortungsbereiche der Händler verlagert.
Die Händler haben bislang nicht die Marketing-Instrumente und -Pro- fessionalität, die ein Hersteller hat, also wird es wahrscheinlich eine neue Schnittstelle geben - nämlich über- geordnete Kundenzentren. Dort könnten Call-Center-Funktionalitäten und das überregionale Marketing angesiedelt sein. Bei den Händlern wird das lokale Marketing wie POS-Aktivitäten oder Events eine stärkere Rolle spielen, während sich die Hersteller eher auf das Corporate Design, Brand Management und die Qualitätsstandards zurückziehen, also ihre Richtlinienkompetenz wahrnehmen.
OtO: Von wem werden die Kundenzentren betrieben? Vom Händler oder vom Hersteller?
Müller: Höchstwahrscheinlich vom Hersteller. Allerdings werden sich auch die Händler in großen Marktketten organisieren und ihrerseits Kundenzentren etablieren.
OtO: Wer ist der Verlierer dieser Entwicklung?
Müller: Wenn der Händler verliert, verliert auch der Hersteller. Wenn sich die Automobilindustrie nicht transformiert, könnten sich neue, unabhängige Wettbewerber wie Sixt oder Avis als große Service-orientierte Händler durchsetzen und ihrerseits die kleineren Händler schlucken.
Der Hersteller hat aber auch die Möglichkeit, sich zu spezialisieren und als Brand Integrator aufzutreten. Ein solches Modell verfolgt BMW. Das Motto lautet dort: "Wir müssen ein Team werden, lasst uns gegenseitig in die Bücher schauen."
BMW hat es geschafft, nach einer Auswertung der Kundendaten die PKW-Dreier- und -Fünferreihen gemäß den meist nachgefragten Ausstattungsmerkmalen weitgehend zu standardisieren und den Produktionsplan darauf abzustimmen. Dadurch, dass jeder Händler die Möglichkeit hat, auch in den Bestand eines anderen Händlers reinzugucken und sich den PKW aus dem Pool herauszuholen, werden schnellst- mögliche Lieferzeiten realisiert, was eine absolute Senkung der Bestandskosten in der Logis-tikkette zur Folge hat.
OtO: Ist ein Mehrmarkenvertrieb, also der Verkauf verschiedener Marken verschiedener Hersteller bei nur einem Händler, realistisch?
Müller: Es wird sicher einen Mehr- markenvertrieb geben. Bei bestimm- ten Prestige-Marken wird die Markenexklusivität si- cher gewahrt blei- ben. Andere Marken könnten sie ein Stück weit aufgeben. Das kommt auf das Preissegment an. Je höherpreisiger das Auto, desto eher wird die Markenexklusivität gewahrt bleiben. Wendet sich das Produkt an eine breite Zielgruppe, für die der Preis kaufentscheidend ist, geht die Tendenz eher zum Mehrmarkenhändler. Die Frage ist also: Welche Kunden habe ich? Und welchen Preis bezahlen diese Kunden? Dementsprechend wird im Premium-Segment künftig noch stärker auf Imagewerbung gesetzt, während sich die Volumenhersteller stärker um die Produktwerbung kümmern werden.
OtO: Ist es denkbar, dass zwei hochpreisige Marken, also zum Beispiel Mercedes und BMW, über einen Händler vertrieben werden?
Müller: Es kommt auf die Region an. In den USA ist so etwas im Gegensatz zu Deutschland wunderbar denkbar. Die Amerikaner haben eine etwas andere Einstellung zum Auto. Wer hierzulande eine Prestige-Marke kauft, verbindet damit auch eine Lebensphilosophie. Also ist es relativ unwahrscheinlich, dass die Hersteller, die im gleichen Segment fischen, so etwas in Deutschland zulassen.
OtO: GVO, Euro und Web führen zu mehr Transparenz und somit zum Preiskampf. Die Folge sind Händlernetzreduzierung, zum Teil der Mehrmarkenvertrieb und stärkerer Wettbewerb seitens der großen internationalen Autover- mieter dieser Welt. Was müssen Hersteller und Händler tun, um ihre Marktanteile bzw. ihr Überleben zu garantieren?
Müller: Letztlich kommt es darauf an, wer über das bessere Kundenmanagement verfügt. Hier greift das Customer-Relationship-Management. Das Umdenken findet teilweise bereits statt, die ersten Hersteller investieren in entsprechende Plattformen. Und hier ist noch eine Menge rauszuholen: Der PKW-Neuverkauf macht nur 50 Prozent dessen aus, was erreicht werden könnte, wenn der Kunde über den Lifecycle gehalten würde, ihm also zum Beispiel Ersatzteile oder Services wie Versicherung, wie Leasing, wie Finanzdienstleistungen angeboten würden. Dazu muss eine Beziehung zum Kunden aufgebaut werden. Eigentlich bleibt den Herstellern gar nichts anderes übrig - aber Entscheidungsprozesse bei Automobilherstellern dauern nun mal lange, und es muss sehr viel Geld investiert werden.
OtO: Agenturen, die Auto-Etats betreuen, müssen sich also keine Sorgen machen, dass ihr Budget sinkt?
Müller: Die Agenturen werden sich ihr Budget von anderen Ansprechpartnern holen müssen. Das Geld wird nicht mehr zentral beim Hersteller liegen, einen Teil wird man sich bei großen Einzelhändlermarken abholen müssen. Und es wird angesichts steigenden Kostendrucks schwieriger sein, die entsprechenden Preise halten zu können.
OtO: Wenn aber Customer-Relationship-Management die Lösung allen Übels ist, ist die Zukunft der Agenturen doch gesichert.
Müller: Wenn die Agenturen die Hersteller von CRM-Programmen sind, dann ja. Da sind die Agenturen allerdings in einem sehr wettbewerbsintensiven Feld, da rangeln sie sich zum Beispiel mit den Beratern.
OtO: Und Sie sind der Meinung, Berater wie Sie beherrschen das CRM-Feld besser?
Müller: Nein, überhaupt nicht. Es ist die Frage: Wie bekomme ich den Zugang? Komme ich von dem werblichen Ansatz her und dann auf die Technik zu sprechen oder komme ich von der Technik und gehe dann die werbliche Seite an? Wir haben technisch ein paar Wettbewerbsvorteile, aber wir haben derzeit noch keine Ahnung, wie man das werbetechnisch umsetzen kann. Wer auch immer der Nutznießer sein wird: Der Trend geht Richtung Kundenbindung. Ich denke, da kommen noch einige Herausforderungen auf die Automobilbranche zu.

Mehr zum Thema: Bericht über die Funktionsweise der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge, Europäische Kommission.

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